Aslan Goisum

Volga (2015)

Volga beginnt mit einer Aufnahme eines offenen Feldes unter grauem Himmel. Ein weißes Auto der gleichnamigen sowjetischen Marke – Standardausstattung der imperialen Verwaltungsklasse in der „Zeit der Stagnation“ – ist der einzige Hinweis auf die kulturelle Geografie des Stücks. Was sich abspielt, findet vermutlich irgendwo in der ehemaligen UdSSR statt. In einem langsamen Crescendo von Geschäftigkeit und Spannung gehen Gruppen von Männern, Frauen und Kindern – insgesamt 21 Personen – auf das Auto zu und quetschen sich hinein.

Die Betrachter:innen werden Zeuge einer überstürzten Flucht, wie sie Hunderttausende während der russisch-tschetschenischen Kriege von 1994 bis 2009 erlebt haben. Doch die Menschen lassen sich mit Ruhe und Würde von dem Auto verschlingen. Es ist, als ob ihre Aktion in all ihrer Absurdität auch als Allegorie des Reisens in einem weiteren und weniger dringlichen Sinne oder sogar als stoische Zurschaustellung von schwarzem Humor verstanden werden könnte.

Wie so oft hat sich Goisum dafür entschieden, sich einer unbequemen Wahrheit indirekt, elliptisch zu nähern und die gespenstische Begegnung zwischen dem Gesehenen und dem Ungesehenen in den Vordergrund zu stellen. Hier wird die gelebte Erfahrung zum poetischen Bild: sowohl ein offenes Feld als auch eine präzise choreografierte Handlung.

Aslan Goisum (1991, Grosny, Tschetschenien) setzt verschiedene künstlerische Medien ein – vor allem das bewegte Bild, skulpturale Installationen und Techniken auf Papier –, die den kollektiven und individuellen Umbruch in der Geschichte des Nordkaukasus zum Ausdruck bringen. Er neigt dazu, in der Erinnerung – kollektiv und persönlich, politisch und kulturell – nach Hinweisen auf koloniale Realitäten zu suchen, danach, wie sie ertragen wurden und wie sie rückgängig gemacht werden könnten. Identitäten kommen in seiner Arbeit als verkörperte Auswirkungen von Gewalt ins Spiel, aber auch als mögliche Öffnungen und Neuanfänge. Zu den jüngsten Ausstellungen gehören: Blood and Soil: Dark Arts for Dark Times, Contemporary Art Centre, Vilnius (2019); Beautiful World, Where Are You?, 10. Liverpool Biennale (2018); How to Live Together, Kunsthalle Wien (2017) und People of No Consequence, Museum of Contemporary Art Antwerp (2016).

HD-Video, Stereoton, 4′11″